Elena Vogman (Bauhaus-Universität Weimar)
Der Vortrag erforscht anhand von Medien- und Schrift-Archiven aus Frankreich eine psychiatrische Reform- und Widerstandsbewegung, die darauf abzielte, die Therapie als eine radikale Restitution der sozialen und mentalen Milieus der Patient:innen neu zu denken. Die “Heilung der Institution" vor jeder individuellen Kur war das entscheidende Prinzip der “Institutionellen Psychotherapie” (1952) – einer Praxis, die von François Tosquelles, Georges Daumézon, Gisela Pankow und Frantz Fanon initiiert und von Félix Guattari, Ginette Michaud, Anne Querrien, Jean Oury und anderen weiterentwickelt wurde. Diese Praxis des Widerstands, die während der Besetzung Frankreichs in den frühen 1940er Jahren entstand, als über 40.000 Patienten Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik des Vichy-Regimes ("extermination douce") wurden, gab den Anstoß für eine Reihe von antikolonialen, queer/feministischen, ökologischen und antirassistischen Bewegungen. Entwickelt im Rahmen der Institutionellen Psychotherapie erprobte die “Geo-psychiatrie” einen neuen umweltbezogenen Ansatz der psychiatrischen Praxis. Ihre Methode der “migrierenden Arbeit” (travail migrant) betrachtete die Klinik nicht mehr als eine überwachte Insel, sondern als eine soziale und mentale Brücke zwischen Welten – als Unterstützung der Patient:innen, ihre Beziehungen wiederherzustellen. Medien wie Film, Fotografie, Druckpresse und Kartografie dienten dazu, die Geografie der Gegenwart kollektiv neu zu denken und aktiv zu gestalten: um Umgebungen, Institutionen und Milieus zu schaffen, welche die psychologische Therapie und Heilung erleichtern sollten. Anhand von neu entdeckten Archiven untersucht der Vortrag die grundlegende Rolle von Kunst und Medien, die zur Entstehung psychiatrischer Milieus beitrugen. Darüber hinaus werden die produktiven Auswirkungen dieser Medien-Milieu-Praktiken in kritischer Theorie beleuchtet.
Der Vortrag findet statt im Rahmen des Seminars „Differente Körperlichkeiten II“ (Susanne Lettow/ Esther von der Osten)
Zeit & Ort
18.07.2023
Ort: Peter-Szondi-Institut, Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 54 (Rostlaube), Raum JK 31/239