„Zeugenschaft und Geschlecht in digitalen Öffentlichkeiten“ (Projektarbeitstitel)
Forscherin: Dr. Saskia Sell
Zeugenschaft manifestiert sich im medialen Diskurs kontinuierlich als privilegierte Nähe (Peters 2001). Sie ist das Fundament medial (re-)konstruierter Wirklichkeit und zentrales, zugleich hochgradig ambivalentes, Element von Glaubwürdigkeit. Damit ist sie ein basaler Modus sowohl für journalistische Berichterstattung als auch im zivilgesellschaftlichen wie persönlichen digitalen Erfahrungsaustausch in sozialen Netzwerken. Zeugenschaft wird als Prozess und als eine Subjektposition verstanden, die zur diskursiven Transformation von Ereignissen beiträgt und unser Verständnis des Weltgeschehens maßgeblich prägt. Durch mediale Übertragung des Zeugnisses trägt Zeugenschaft immer auch zu einer Übertragung von Verantwortung bei, sie appelliert, signalisiert gegenwärtigen Handlungsbedarf und ermöglicht Dokumentation als Grundlage für zukünftiges Handeln. Sie verunmöglicht Schutzbehauptungen, die empfundene Ohnmacht gegenüber gegenwärtigen Verhältnissen oder entfernten Gewaltakten erträglicher machen sollen, streicht das Wir-haben-all-das-ja-gar-nicht-gewusst aus dem Repertoire des Sagbaren. Testimonialwissen (Schmidt 2011) zirkuliert dabei unter durch die Digitalisierung von Kommunikationsprozessen veränderten Bedingungen, die auch die Subjektposition der Zeugenschaft neu herausfordern.
Diese Dynamik nimmt das Projekt mit besonderem Fokus auf die Geschlechterperspektive in den Blick: Wie wird in digitalen Öffentlichkeiten Geschlecht in der Subjektposition der Zeugenschaft hergestellt? Wessen Zeugnis und welche Art von Zeugnis wird mittels welcher diskursiven Praktiken als wahr und glaubwürdig dargestellt und medial weiterverbreitet? Wem und welcher Botschaft wird wie Glaubwürdigkeit abgesprochen? Die geplante Analyse verbindet Perspektiven der Geschlechterforschung mit aktuellen Perspektiven der Journalismusforschung – eingebettet in interdisziplinäre Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Zeugenschaft und seiner kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung. Sie konzentriert sich auf diskursive Praktiken der Zuschreibung und Negierung glaubhafter Zeugenschaft im Journalismus und in sozialen Medien und kann zur Offenlegung von testimonialer Ungerechtigkeit (Fricker 1998), die mit Geschlechterpositionierungen verknüpft ist, beitragen.
Zur Person: Dr. Saskia Sell ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Journalistik am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie hat zu diskursiven Aushandlungsprozessen von Kommunikationsfreiheit promoviert und leitet derzeit die Lehrredaktion MedienLabor des IfPuK.
Geplanter Zeitplan: Juni 2018 bis Januar 2019
Kontakt: saskia.sell@fu-berlin.de